Nicht was ist, sondern was sein könnte

Der Schriftsteller, sagt Simone de Beauvoir, muss beides zur gleichen Zeit schildern: Die pittoreske Schönheit der Vorstadt und das Elend der Arbeiter in ihren Quartieren.

Im weiteren Sinne muss also die Kunst Mitgefühl erwecken und die Empfänglichkeit für Schönheit.

In Zeiten von Populisten und Autokraten hat es das Mitgefühl schwer. Aber lassen wir uns nicht zu leichtfertig auf die eine vermeintlich richtige Seite festlegen. Mitgefühl ist keine Rechtfertigung, kein Gutheißen, schon gar nicht Komplizenschaft. Sich auf eine Seite zu schlagen führt zur Selbstverleugnung und Verstümmelung.

Mitgefühl bedeutet, jeden Menschen in der Gesamtschau seines Lebens und seiner Situation zu sehen. Die Gründe für sein Handeln zu beleuchten, auch und erst recht, wenn man sie nicht teilt, wenn sie moralisch verwerflich sind. Wenn Künstlerinnen und Künstler sich nicht in den Abgrund vorwagen, wer vermag es dann? Dieser Bericht aus der Finsternis macht die Konturen der Dinge deutlicher und leistet einen Beitrag zur Aufgabe, die Hilde Domin Dichterinnen und Dichtern stellt: Nicht zu schildern, was ist, sondern was sein könnte.

Selbst zu einer vollständigen friedlichen Welt, ohne Ungerechtigkeit, ohne Gewalt, zu einer Welt des Einvernehmens ist er gefragt, ja vonnöten: Der Gegenentwurf der Künstlerinnen und Künstler.

Die Kunst und die Dichtung verstricken sich nicht im Dilemma eines Entweder -Oder, eines Wahr oder Falsch, Gut oder Böse.  Sie sind immer dazwischen, bieten immer einen Weg zum Dahinter, zum Darüber-Hinaus.

Es ist eine Absage an das bloße Funktionieren in einem Geflecht von Zuständigkeiten und Verpflichtungen. Es genügt, einen Menschen zu berühren und einen Zweiten und vielleicht noch einen Dritten. Wer das getan hat, hat nicht umsonst gelebt.

Bleibt die Schönheit. Sie ist immer mit dem Vergehen verbunden. Wer Schönheit festhalten will, zerstört sie, indem er sie ihrer Zeitlichkeit beraubt. Die Schönheit sagt Rilke ist des Schrecklichen Anfang.

Vielleicht kann Schönheit nur zutiefst empfinden, wer dabei an die eigene Vergänglichkeit denkt.

Die Kunst, die Schönheit wahrhaftig wiedergibt, weiß um diesen scheinbaren Widerspruch und kann ihn auflösen, durch Mitgefühl mit dem Menschsein in dieser Welt.

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Herzlichst, Ihr Joachim Poet Harms